Frühjahrsblumen

Es stinkt.Als Liv den Flur betritt, reicht einAtemzug, um ihr bewusst zu machen, dass es keine gute Idee war, einen Vierzehnjährigen fast eine Woche lang sich selbst zu überlassen, von regelmäßigen Kontrollanrufen abgesehen. Sie geht ins Wohnzimmer, öffnet die Fenster und begutachtet das Chaos: Pizza, Hamburger, Chinesisch und Kartoffelchips:Aarons Speiseplan der vergangenen Tage ist leicht zu rekonstruieren, er hat nicht nur die Verpackungen, sondern auch Reste herumliegen lassen. Kein schmutziges Geschirr, das ist tröstlich, er benutzt keines. Und er wechselt häufig die Socken, zumindest nach den zahlreichen benutzten Paaren auf dem Sofa zu schließen. Wenn Janko das zu sehen bekäme. Ursprünglich war abgemacht, dass ihr Exmann täglich vorbeischaut, sollte Liv geschäftlich verreisen müssen. Aarons Bitten entsprechend, hat sie Janko diesmal testweise nicht benachrichtigt. Test nicht bestanden.

Liv ruft nach ihrem Sohn. Keine Antwort. Er ist nicht zu Hause, was sie nachvollziehen kann.An seiner Stelle hätte sie ebenso das Weite gesucht. Sie ist müde, zu müde, um angemessen empört zu sein, hinter ihr liegt eine anstrengende Woche: Unterwassersprengungen bei Leer in Ostfriesland, alte Brückenpfeiler, stabiler, als erwartet, dann heute früh die Rückfahrt, fünf Stunden durch den Regen, plattes Land, entnervte Pendler, fünfzehn Kilometer Stau bei Hamburg. Sie will jetzt keinen Streit. Nur frische Luft und Ordnung, also telefoniert sie mit ihrer Haushaltshilfe, Frau Köhler, schildert den Fall und bittet sie, gegen ein Schmerzensgeld ihrer Wahl außer der Reihe vorbeizukommen. Frau Köhler, üblicherweise für jeden Cent dankbar, lehnt brüskiert ab, aus Prinzip, wie sie betont. Liv hat das Bedürfnis, sie zu feuern, ebenfalls aus Prinzip. Doch sogar dafür ist sie zu müde. Sie greift nach einer fast leeren Chipstüte, isst die letzten Krümel und geht ins Schlafzimmer, wo sie sich in Kleidern auf das Bett legt und sofort einschläft.

Über Nacht ist die Hauswiese ergrünt. Das trockene vorjährige Gras hat sich in frisches verwandelt, der Duft beschwippst die Singvögel in den Lüften und die Kühe im Stall. Ihr Stampfen und Brüllen lässt Fritzi keine Ruhe, sie sehen sich im Recht, die sturen Biester, es ist längst Zeit für den Austrieb. Harter Frost steht nicht an, die Frühjahrsstürme sind auch vorbei, doch Fritzi gefällt der Tag nicht, und sie lässt sich nicht hetzen, schon gar nicht von der Ungeduld des Milchviehs. Sie will warten, bis der Enkel zurück ist. Er soll zuvor die Zäune überprüfen. Überdies sieht der Junge es nicht gern, wenn Fritzi sich als alte Frau mutterseelenallein mit den Kühen abmüht. Denn Kühe sind nicht ungefährlich, erst recht nicht die der isländischen Rasse, und um diese Jahreszeit können sie, wie die meisten Lebewesen, besonders drollig werden. Genau deshalb setzen sie ihren Willen aber auch diesmal durch: Mittags hat Fritzi das aufständische Muhen satt und öffnet die Stallpforten, wird zum Dank sogleich über den Haufen gerannt, dass ihre Hüftknochen krachen wie vertrocknetesAstwerk.

»Ihr Bestien.Auf euch wartet der Abdecker.« Fritzi sitzt im Mist und droht mit der Faust. Beim Aufstehen ein stechender Schmerz links. Die Kühe, auch nicht mehr die Jüngsten, kümmert das nicht, sie galoppieren steif über die Hauswiese, saugen mit aufgeblähten Nüstern die Würze des sonnigen Tages ein. In ihrer Freude wagt die Schlankere sogar einen kleinen Luftsprung, alle viere heben ab und kommen ungelenk wieder auf. Die Kuh strauchelt und hebt vor Schreck den Schweif, um Wasser zu lassen, die Augen staunend geweitet. Hat man so was schon gesehen? Ein Rindvieh,das frei sein will wie ein Vogel. Fritzi lacht.

Ihre Fröhlichkeit verfliegt so rasch, wie sie gekommen ist, als sie die Zäune von Ferne selbst inAugenschein nimmt. Viel morsches Holz. Da müsste dringend etwas passieren. Ob sie den Nachbarn anrufen soll? Kein Lebenszeichen vom Enkel. Wer weiß, wann sie einander wiedersehen? Bjarney könnte das wissen, falls sie ihre Elfen dazu befragt hat. Was noch lange nicht heißt, dass sie bereit wäre,Auskunft zu erteilen.

Als wäre sie wieder einmal in den Gedanken ihrer Freundin umherspaziert wie in einem öffentlichen Park, gibt Bjarney sich am Nachmittag auf Bjarg die Ehre. Zu Ross,Autos sind ihr ein Gräuel, in leichtem Trab und an ihrer schlohweißen Haarpracht weithin zu erkennen. »Glück und Segen.«

Fritzi brummt eine Antwort, ohne von der Gartenarbeit aufzusehen. Hinter dem Haus gibt es eine windgeschützte und von der Sonne begünstigte Stelle.Dort hat sie inmitten von Lava und Geröll ein Gemüsebeet angelegt: Bohnen, Mohrrüben, Kartoffeln, ein paar Kräuter. Die Ernte ist meist klein, das Gemüse mickrig im Wuchs, aber geschmacklich überzeugend.

»Immer fleißig, die deutsche Hausfrau«, spottet Bjarney. »Ich frage mich, ob ich bei dir wohl einen Kaffee bekommen kann.«

»Hast du jemals keinen Kaffee bei mir bekommen?« Fritzi rappelt sich hoch, eine Hand auf die linke Hüfte gepresst, die ihr seit dem Sturz am Mittag Schwierigkeiten bereitet.

Bjarney hüpft aus dem Sattel und entlässt den Fuchs mit einem Klaps auf den Hintern zum Grasen.

»Heute ist wohl jedem außer mir zum Springen zumute«, sagt Fritzi.

»Warum machst du es nicht wie ich? Entscheide dich an so einem schönen Tag nicht für die grimmige Alte in dir, sondern für das freche Mädchen mit Flausen im Kopf.«

»Ich war nie frech als Mädchen. Das konnte ich mir gar nicht erlauben. Wenn es eine Zeit gibt, in die ich mich nicht zurücksehne, dann meine Kindheit. Nicht, dass die Jahre danach so viel besser gewesen wären.«

»Na, so schlimm war dieses eine deiner vielen Leben doch wohl nicht, Fritzi. Was wir beide allein für Spaß zusammen hatten, das kannst du nicht vergessen haben.« Bjarney pflückt eine Butterblume und steckt sie der Freundin ins Knopfloch ihrer Strickjacke. »Wenn dir die Vergangenheit nicht schmeckt, nasche eben von der Zukunft.«

Fritzi wird es zu bunt. Sie will keine Blume im Knopfloch, und auf Bjarneys Verrücktheiten hat sie schon gar keine Lust. Immerhin: Das Verlangen, Bjarney zu schubsen, ist mühelos unter Kontrolle zu bringen, wenigstens ein Vorteil desAlterns.Früher hätte sie geschubst. Stattdessen nimmt sie die Blüte und zerdrückt sie zwischen den Fingern. »Wir haben keine Zukunft, Bjarney. Du nicht und ich nicht. Weil wir Greise sind. Sieh uns an, wie wir verwelken, das ist nun mal der Lauf der Zeit. Kismet. Es sollte bloß nicht passieren, dass Menschen jung sterben, viel zu jung.«

Sie stapft ins Haus. Kocht Kaffee. Sucht im Küchenschrank nach Gebäck und findet nur noch eine letzte Packung, sie war lange nicht im Supermarkt. Die Kekse bleiben zu. Sie sind nicht für Bjarney bestimmt.

Die gibt unterdessen keine Ruhe, hat sich richtig in Fahrt gequasselt. »Stell dir vor, es gibt Dimensionen im Universum, in denen läuft die Zeit genau anders herum. Man wird erwachsen geboren und stirbt als Säugling.Alles Wissen und alle Erfahrung gehen Stück für Stück verloren, das ist auch kein leichtes Los, und ...«

»Hör endlich auf mit dem Geschwafel. Sag mir lieber, was aus meinem Enkel wurde. Er ist in Deutschland, seit zwei Wochen höre ich kein Wort, und ich weiß, dass du weißt, was mit ihm geschehen ist.Also, sag es mir bitte.« Ihr Puls rast, doch es gelingt ihr einzuschenken, ohne zu zittern. Der Geruch des Kaffees bereitet ihr Übelkeit. Sie holt die Branntweinflasche aus dem Gefrierfach.

Bjarneys Blick ruht auf ihr, für einen Moment von Traurigkeit überschattet. »Ach Fritzi, was erwartest du von mir?«

»Ich erwarte eine Antwort.«

»Die wirst du bekommen.Aber nicht von mir. Du überschätzt meine Kraft.«

Langes Schweigen. Fritzi hält die eisige Flasche mit beiden Händen, äußerlich ruhig, innerlich erzürnt über Bjarneys Geschick,sich mit mehrdeutigen Aussagen aus der Affäre zu ziehen. Ist die Freundin tatsächlich ahnungslos? Oder will sie bloß nicht über den Enkel reden? Sinnlos, sich deswegen zu streiten, so ist sie eben.

»Ist wirklich alles Schicksal? Oder können wir wählen?«, fragt Fritzi.

»Natürlich.Es ist unser Schicksal, unser Schicksal zu wählen«, antwortet Bjarney.

Zum Kaffeetrinken setzen sie sich auf die Bank neben der Haustür. Endlich Stille, bis auf das Singen der Vögel. Vom Meer kein Laut. Bjarney ergreift Fritzis Hand und hält sie fest. »Was tust du da?«

»Ich schenke dir Liebe und Frieden. Es ist viel wert, einen Freund zu haben, der uns, wenn die Stürme des Daseins toben und es kein Entrinnen gibt, Liebe und Frieden schenkt.«

Fritzi will ihre Hand wegziehen, aber sie merkt, wie ihr plötzlich besser zuwege ist und ihr aufgewühltes Herz langsamer schlägt. Frieden ist es nicht gerade, was sie empfindet, das wäre zu hoch gegriffen, eher Leere. Ihr Inneres als Vakuum.

Als das fuchsfarbene Pferd sich neben sie stellt und sie unsanft gegen die Schulter stupst, machtBjarney sich auf den Heimweg. Fritzi sieht ihr nach. Obgleich sie mit dem Brennivín im Kaffee sparsam umgegangen ist, könnte sie schwören, dass die Welt sich ausnahmsweise rückwärts dreht und die Freundin mit jedem Blinzeln jünger wird.

Fritzi reibt sich die Augen. Im Knopfloch ihrer Strickjacke steckt gelb leuchtend und unversehrt eine Butterblume.

Das Telefon klingelt. Liv, alles andere als ausgeschlafen, hebt ab und lauscht kommentarlos der Stimme ihrer Großmutter, die höher und schneller spricht als gewöhnlich, sodass es mühsam ist, ihr zu folgen. Es geht um Tönges und die Scheidung, soviel wird klar, er hat irgendwelche Termine nicht eingehalten.Als Henny die Polizei erwähnt, unterbricht Liv ihren Redefluss und verspricht, umgehend vorbeizukommen.

Wenig später sitzen sie im Wintergarten der Großeltern und trinken Tee. Die alte Dame ist wesentlich ruhiger als zuvor am Telefon, ganz Hausherrin, sie serviert Gebäck, wenngleich mit fahrigen Bewegungen, und erkundigt sich nach LivsBefinden.

Liv geht nicht darauf ein. »Oma, was ist hier eigentlich los?«

Henny hat gerade die Tasse angesetzt. Die Frage, zu diesem frühen Zeitpunkt der Unterhaltung, bringt sie offenbar aus dem Konzept, sie verschüttet Tee auf ihre helle Bluse. Nur ein Tropfen, aber sie will sich daraufhin unbedingt umziehen und den Fleck auswaschen. Bloß keine Hilfe, Liv soll einfach nur warten.

Sie zwingt sich, sitzenzubleiben und inden gepflegten Garten zu schauen. Regenschleier auf den Büschen und Stauden, der Rasen englisch, kein Moos, keine Butterblümchen, dasfrisch getrimmte Gras glänzt in einem intensiven Grün. Liv trinkt einen Schluck, denkt an ihr Wohnzimmer und seufzt.

»Es tut mir leid, Liebes. Erst bringe ich dich dazu, in Windeseile hierherzukommen, dann lasse ich dich allein mit deinem Tee.Ich bin grässlich.« Hennyist zurück, sie trägt jetzt einen engen, dunklen Rollkragenpullover, der sie schmaler erscheinen lässt, als sie ist.

»Kein Problem.«

Livs Großmutter nimmt Platz und atmet tief durch. »Weißt du, wo Tönges steckt?«

»Nein. Wieso? Ich habe ihn Ostern auf Fehmarn zuletzt gesehen.«

»Dann ist er verschwunden«, sagt Henny bestimmt. »Verschwunden? Was meinst du damit? Er wohnt doch hier.«

»Nicht mehr. Eine Woche nach Ostern ist er ausgezogen.«

»Ach.« Liv denkt an ihre vergeblichen Anrufe auf seinem Handy vor der Sprengung in Herrenwyk. Danach hat sie es nicht mehr probiert, enttäuscht über sein Desinteresse an dem für sie so wichtigen Auftrag. »Und wohin ist er gezogen?«

»Er wollte erst mal in die Laube.Aber da ist er nicht. Ich habe heute Vormittag nachgesehen. Seine Sachen waren dort, er aber nicht.«

»Das muss nichts heißen«, sagt Liv, um Zeit zu gewinnen. Die Nachricht über Tönges'Auszug trifft sie unerwartet, ob-schon sie von der geplanten Scheidung ja wusste. Dass er seiner Frau das gemeinsame Haus überlässt, scheint naheliegend. Es bedeutet ihr mehr als ihm, sie hat es nach ihren Wünschen gestaltet und die meiste Zeit darin verbracht.

»Hat er sich bei dir gemeldet?«, fragt Henny.

Liv schüttelt den Kopf.

»Wir hatten nämlich heute früh eine Verabredung mit unserem Rechtsanwalt, und Tönges ist nicht erschienen. Das war bereits das zweite Mal.« Henny nimmt einen Haferkeks und knabbert mit trotzigem Gesicht darauf herum. »Mir reicht es. Ich werde mir einen eigenen Anwalt nehmen. Wenn er denkt, er kann die Angelegenheit aussitzen, täuscht er sich.«

Eine Pause entsteht. Liv lässt ihre Großmutter nicht aus den Augen.Wie sich zeigt, hat sie die Situation falsch eingeschätzt: Henny ist verärgert wegen Tönges, nicht besorgt um ihn.

»Hat er sich wirklich nicht bei dir gemeldet, Liebes?«

»Nein, hat er nicht, ich schwöre es. Sag mal, war die Scheidung eigentlich seine oder deine Idee?«, fragt Liv, einer Eingebung folgend.

Henny zögert. »Spielt das eine Rolle? Wir waren uns einig, er und ich.«

»Ja, ja. Das sagtet ihr bereits.Aber wer hat die Initiative ergriffen?«

»Ich«, sagt Henny, und es klingt stolz. »Das hättest du nicht gedacht, oder?« »Nein.«

Wieder dieser trotzige Blick. »Du bist wie Tönges. Ihr ändert euch nie. Es wird mir ewig ein Rätsel sein, warum ihr beide euch eigentlich für so unangreifbar haltet.«

Liv schweigt. Sie hält sich keineswegs für unangreifbar, weiß aber, worauf die Bemerkung abzielt. Ihre Ehe mit Janko:Anfangs hat er sich oft bei Henny beklagt, weil er Liv für eine schlechte Frau hielt, distanziert und rücksichtslos, und er glaubte, dieses Verhalten habe sie gewissermaßen von Tönges übernommen.Als Henny vermitteln wollte, hat Liv überreagiert. Ein fürchterlicher Streit. Die Erinnerung daran erweckt die Gefühle von damals wieder zum Leben und bringt Liv erneut gegen die Großmutter auf, obwohl ihr Verstand ihr sagt, dass diese nur ihr Bestes wollte. Im Sog der Auseinandersetzung kam es auch zu einem Zerwürfnis zwischen Tönges und Henny. Sie hat nicht vergessen, wie unangemessen ihr Großvater und sie die gegen sie gerichteten Vorwürfe damals fanden. Es stimmt, keiner von ihnen hätte jemals die Möglichkeit in Betracht gezogen, vom Ehepartner verlassen zu werden.Als Janko sich trennen wollte, hielt sie das schlicht für eine Kompetenzüberschreitung. Er hatte gebettelt wie ein Hund, um sie zur Heirat zu bewegen, inklusive kirchlicher Trauung. Was gab ihm nun das Recht, sein Eheversprechen zu widerrufen? Wo es ihm doch so verdammt heilig war.

Inzwischen denkt sie anders darüber. Nachdem Jahre vergangen sind, glimmt ab und zu ein Funken Verständnis für seine Haltung auf.An guten Tagen. Er ist genauso unvorbereitet wie sie in die Ehe gegangen, er wollte seine Sache gut machen, zumindest anfangs, während sie darauf bedacht war, sich so zu geben, als hätte das alles nichts mit ihr zu tun. Sie war wie gelähmt von der Vorstellung, den Rest ihres Lebens mit ihm zu verbringen, sie waren ja nicht mal richtig ineinander verliebt, keiner von ihnen. Und Mutter hatte sie auch nie werden wollen. Nach allem, was sie zu Hause erlebt hatte, konnte sie sich nicht vorstellen, dafür besser geeignet zu sein als Maiken. Das Scheitern der Ehe hätte eine Erleichterung für sie sein müssen – aber sie war entsetzt. Verletzter Stolz hatte ihr zugesetzt wie eine schwere Krankheit, die Nachwirkungen spürt sie bis heute. Wie mag Tönges sich fühlen? Das Geschwafel von gegenseitigem Einvernehmen ist mit Sicherheit gelogen.

»Du hast es ziemlich lange mit deinem Mann ausgehalten. Hast du die ganze Zeit gehofft, er könnte sich in deinem Sinn verändern?«

»Nein, nur am Anfang. Ich dachte, er würde mit der Zeit ausgeglichener werden. Häuslicher. Ich war sehr oft sehr unglücklich, glaub mir.Aber ich hatte einfach nicht die Kraft, ihn zu verlassen.«

»Und jetzt hast du sie?« Liv hört, wie gepresst ihre Stimme klingt, ihre Fingerspitzen kribbeln wie vor einer Ohnmacht, aber es bedeutet eher das Gegenteil, das ist ihr klar. Sie ist kurz davor, auszurasten. Tönges'Abwesenheit, die vergeudeten Jahre mit Janko, die Zeit danach, ihr Versagen als Mutter – und ihre Unfähigkeit, in all dem einen Sinn zu erkennen.Die Wut rollt auf sie zu wie eine Flutwelle. Sie steht auf und stellt sich ans Fenster. Der Regen fällt unermüdlich. Gleichgültig.

»Ja, Liebes, jetzt fühle ich mich endlich stark genug«, sagt Henny.

Liv lässt die Arme hängen, die Finger trommeln kaum hörbar einen schnellen Rhythmus auf ihren Hosenbeinen, sie registriert es mit Erstaunen, als gehörten sie nicht zu ihr. Das Kribbeln wird stärker. Es hängt damit zusammen, dass ihre Großmutter sie aus Gewohnheit oderHarmoniestreben beharrlich Liebes nennt, obwohl sie Liv eindeutig und zu Recht nicht als lieb empfindet. Jeder Satz von ihr ist eine Abrechnung, garniert mit Zucker. Dazu diese gepflegte Bürgerlichkeit drinnen und draußen, feines Porzellan, Earl Grey, die akkuraten Rasenkanten, Häkelspitze auf dem polierten Kirschholztisch, die vollkommene Abwesenheit von Schmutz, und sei es nur Staub auf einer Zimmerorchidee – Zunder, wohin Liv blickt. Jetzt sehnt sie sich zurück inAarons aufrichtiges Teenagerchaos.

Plötzlich kommt Liv ein Gedanke. »Hast du jemand anderen?«, fragt sie und ist zugleich sicher, die Antwort zu kennen. Bei Janko hat das Kennenlernen von Ehefrau Nummer zwei jedenfalls die entscheidenden Kraftreserven für eine Trennung freigesetzt.

Henny nickt.

»Na bravo.Herzlichen Glückwunsch.« Unvergessen der letzte Akt ihrer Ehe, für Janko die Testphase der neuen Beziehung. Er wollte nicht das Risiko eingehen, am Ende allein dazustehen, verständlich aus seiner Sicht, einfältig von ihr, nichts zu ahnen, sich nicht zu wundern, als von heute auf morgen Verve in ihr inzwischen reichlich flaues Liebesleben kam. Janko frei von Hörigkeit, berauscht, potenter als je zuvor, weil zum ersten Mal seit der Trauung Herr der Lage. Machtspiele. Die bittere Erfahrung, austauschbar zu sein. Liv wird übel, als ihr bewusst wird, wie sehr das Gefühl der Erniedrigung sie heute noch schwächt. Sie will nicht schwach sein.

»Bist du in Ordnung, Liebes? Reg dich bitte nicht auf, das ist wirklich eine Angelegenheit zwischen Tönges und mir«, sagt Henny.

Liv starrt auf einen bestimmten Punkt am Hals der Großmutter, wo sich unter dem Rollkragenpullover das Brustbein abzeichnet. Genau oberhalb davon würde sie ihre Daumen ansetzen, um ihr die Luft abzudrücken, ganz leicht ginge das, und die freundliche alte Dame hätte ihr letztes »Liebes« in die Welt gehaucht. Liv zittert. Sie will es, kein Zweifel, für den Bruchteil einer Sekunde will sie es wirklich. Sie will ihre eigene Großmutter würgen, sich an Henny abreagieren, obwohl sie nichts oder fast nichts mit Livs Wut zu tun hat. Schockiert über sich tritt sie mit aller Kraft gegen das Tischchen, auf dem das Teegeschirr steht. Porzellan splittert, Holz zerbricht. Earl Grey auf weißen Fließen.

Henny ist starr vor Schreck. »Jetzt schau dir das an, Liv. Du bist wirklich genau wie Tönges, das geht so nicht. Ich ertrage das nicht mehr. So kann man doch nicht leben«, stößt sie hervor, eine Hand vor dem Mund, in der anderen die eigene, unversehrt gebliebene Tasse.

Höchste Zeit zu gehen. Liv hetzt zur Tür, gefolgt von ihrer Großmutter. Warum kann die nicht noch zwei Minuten auf ihrem Hintern sitzen bleiben und weiterzetern? Aber nein, sie muss die Form wahren, die Enkelin zur Tür geleiten und ihr den Parka bringen, riskiert es sogar, sie an der Schulter festzuhalten, damit sie ihn nur ja nicht vergisst.

Liv wirbelt herum. »Was?«

»Pardon.« Henny weicht zurück. »Deine Jacke.«

»Danke.«

Henny schnieft. »Ich rufe die Polizei.«

»Tu das. Das ist mir so was von egal«, entgegnet Liv in der Annahme, ihre Großmutter wolle wegen des zerschlagenen TeeserviceAnzeige gegen sie erstatten.

»Wegen Tönges. Weil er doch verschwunden ist«, jammert Henny.

Da ist es wieder, dieses lächerliche Wort, das Liv vorhin schon nicht an sich heranlassen mochte. Es wird jemandem wie Tönges einfach nicht gerecht. »So ein Quatsch, er ist nicht verschwunden«, sagt sie. »Er hat dich einfach nur satt. Geht mir übrigensgenauso.Also, auf Wiedersehen.«

Die Tür fällt zu, und Liv steht im Regen.

Der Fluch:Als er aufbricht, ist Frühling. Weidenkätzchen knospen, Singvögel zwitschern und das Blaubeerkraut öffnet seine Blüten, weiß und rot. Die Sonne hat schon Kraft, ihre Strahlen vergolden die schroffe Küstenlandschaft. Er ist sehr jung und hat es eilig, wie alle jungen Leute. Eine Schwäche der Jugend, dieses Ungestüm, dauernd die Befürchtung, etwas zu versäumen, die schon manchen taufrisch ins Grab brachte. Seine Jugend lässt ihn über die Warnungen der Alten mit einem Lächeln hinweggehen.

»Sturm kommt auf«, sagt sein Freund, der Fischer. »Der Wind dreht auf Nord.«

Nordwind? Und wenn schon. Die Luft vom Polarkreis bläst einem ordentlich den Kopf frei.

»Es gibt Eis und Schnee«, sagt der Kaufmann. »Ich spür's in den Knochen.«

Eis und Schnee? Pah! Sein Herz brennt so heiß, es ließe die Gletscher schmelzen, denn er ist verliebt. Die Braut wartet in der Stadt, unbefleckt und elfenschön, und wenn er etwas weiß über elfenhaft schöne Jungfrauen, dann, dass ihre Bereitwilligkeit zu warten selten von Dauer ist – ebenso wenig wie ihre Schönheit.Also bricht er auf. Er hat einen Plan: Vom Landesinneren wird er sich fernhalten, zu gefährlich, jedoch wenn er das Meer zur Linken stets im Blick behält, die Steilküste passiert, Bergpässe meidet und erst auf der Halbinsel in nördliche Richtung wandert, wird ihm kein Wintereinbruch etwas anhaben können, zumal die Gegend mit heißen Quellen gesegnet ist. Nicht zu vergessen sein warmer Mantel: Rentierleder, schafsfellgefüttert, ursprünglich von feinster Qualität. Ein Erbstück vom Vater des Vaters, betagt, aber immer noch gut zu gebrauchen.

Zunächst ist die Heimreise ein Spaziergang. Das schroffe Land fast ein Idyll. Obschon nicht von heiterem Naturell, kommt es vor, dass der Braune, wie er nach der Farbe seines Zottelbarts, des Lockenkopfs und besagten Mantels spöttisch genannt wird, ein Lied auf den Lippen führt. Dann aber fällt die Temperatur blitzschnell. Beim Auftaktt eines uralten Rimurs aus dem Jahrhundert der Landnahme ist die Luft noch mild und lieblich, Insekten umschwirren ihn, als sei bereits Sommer.

Fünf Strophen weiter eine andere Welt.Tiefhängende Wolken schieben sich aus dem Nichts vor die Sonne, das Licht schwindet: Gold zu Silber, Silber zu Asche. In Strophe sechs beginnt es zu schneien, Strophe acht schmettert er den ersten kräftigen Böen entgegen, die elfte Strophe lässt er sein. Jetzt gibt ein Orkan den Ton an: treibt Schnee vor sich her und dem Wanderer direkt in die Augen, schwere Flocken, die in kürzester Zeit die Erde bedecken. Das Unwetter kreischt in seinen Ohren, dass er taub zu werden glaubt, jeder Windstoß fährt ihm durch die Kleider bis ins Mark, als wäre der Mantel bloß ein dünnes Hemd,weiter nichts. Der Braune ist fast blind und kann nichts hören, jeder Schritt wird bald zur Qual. Wo sind die Berge, wo das Meer? Was, wenn er im Kreis geht?

Er bekommt es mit der Angst zu tun. Hielt er sich bislang für einen echten Teufelskerl, muss er nun einsehen, dass seine Tapferkeit Grenzen hat.An die stößt er bereits nach wenigen Stunden Kampf gegen die Naturgewalten, und Stunden sind gar nichts, Schneestürme dieser Art können Tage dauern, das ist ihm bewusst. Dem Braunen ist schier zum Schluchzen zumute, und der Orkan mit seinem Geheule verhöhnt ihn dafür.

Was für ein Anblick in dieser Not der schwache Lichtschein eines Gehöfts, was für ein Aroma der Rauch des Torffeuers. Bjarg ist kaum mehr als ein Elendsquartier zu jener Zeit, lange bevor das Holzhaus und die Stallungen entstehen. Die Familie lebt beengt in einem niedrigen Grassodenbau, mehr Hütte als Haus, Menschen und Schafe unter einem Dach, für eine Kuh reicht es nicht. Ein Fenster: doppelt handtellergroß. Nicht einmal unter dem Firstbalken kann der Bauer aufrecht stehen. Und doch: für einen Wanderer, der zu erfrieren droht, ein Himmelreich.

Schneebedeckt, das bärtige Haupt mit einem Eispanzer überzogen,pocht der Braune gegen das Fenster und sagt: »Hér sé gu ð – hier sei Gott«, wie es Brauch ist, damit die Leute im Haus wissen, dass es sich bei dem Besucher nicht um einen Geist handelt. Denn die dürfen den Namen desAllmächtigen nicht aussprechen.

Als geöffnet wird, will ihm das Sprechen nicht gelingen, die Maske aus Frost lähmt seine Lippen, er stöhnt wie ein Raubtier, und doch ist es für den Bauern Jón nicht schwer zu erraten, worum es geht. Ein Mensch in höchster Gefahr fleht um Hilfe.

Und wird abgewiesen.

»Gleich dort hinten gibt es Höhlen, wo du Schutz finden wirst.Aber hüte dich vor den heißen Quellen.« Ein knapper Rat, ein vager Fingerzeig. Mehr hat Jón in dieser Sturmnacht nicht zu geben. Er begeht einen Fehler, und sicher weiß er das, wie die meisten Menschen genau wissen, wenn sie etwas Falsches tun, gefangen in einem bitteren Augenblick, und nicht anders können oder wollen oder beides. Womöglich ahnt der Bauer bereits, dass dies die Schicksalswende für den Hof und die Sippe ist: vom leidlich Schlechten hin zum Katastrophalen.

Denn der Braune beschimpft ihn im Gehen, die Kraft für Flüche übelster Sorte hat er noch, aber er schafft es nicht zuden Höhlen. Unweit des Hofes gerät er in ein siedend heißes Schlammloch und stirbt, umhüllt von Schwefelgestank, unter Qualen an seinen Verbrennungen, noch bevor der allgemein als gnädig bekannte Kältetod ihn holen kann.

Als Jón selbst den Leichnam Tage später findet, sorgt er für ein ordentliches Begräbnis – und verhängt ein Gelübde des Schweigens über sich und seine Familie. Nein, sagt er dem Pfarrer, er habe den unbekannten Toten auf seinem Land nie zuvor gesehen. Kein Mensch soll je die Wahrheit darüber erfahren, was im Schneesturm geschah. Doch mit der Wahrheit in einer Dorfgemeinschaft ist es wie mit der Lava im Innern der Erde: Sie brodelt und faucht unter der Oberfläche, gibt keine Ruhe, sodass kein Lügner sich jemals vor ihr sicher fühlen kann, und irgendwann, wenn es ihr gefällt, bricht sie ans Licht, mal in einer gewaltigen Explosion, mal schleichend. Und so geschieht es.

Sonntags nach der Kirche beginnt das große Flüstern: »Man hört, er hat den Fremden abgewiesen, neulich im Sturm.«

»Ja, man hört so einiges.«

»Mit einem Tritt in den Hintern vom Hof gejagt hat er den Fremden, mehr tot als lebendig.«

»Was du nicht sagst. Das ist nicht gut, gar nicht gut. Das schlägt zurück.«

»Ja, das schlägt zurück.«

Die Zeit der Heimsuchung hat begonnen. Der Braune verschafft sich Zutritt in die Träume des Bauern,denn nun gibt es auf Erden nichts mehr, das ihn aufhalten kann. Er schwört, Jón und seine Söhne zu verfolgen bis ins neunte Glied.

Neun Generationen Unheil. Der Enkel wird demnach das letzte Opfer werden. Fritzi, den Tod des jungen Wanderers als Wachtraum vor Augen, fragt sich wie bereits unzählige Male zuvor, was den Urahnen ihres verstorbenen Mannes einst davon abhielt, dem Braunen Zuflucht vor dem Schneesturm zu gewähren. Die Armut? Nach einem verheerenden Vulkanausbruch herrschte Hunger im Land, immerfort klopfte bettelarmes Volk an die Tür, und Jón hatte eine Frau, deren Mutter, die eigenen Eltern und vier Kinder zu ernähren, drei weitere waren bereits gestorben. Doch er hätte ja nicht unbedingt sein Brot mit dem Fremden teilen müssen, ein Platz vor dem Herdfeuer, sogar bei den Schafen im Stall, hätte ausgereicht – und vielleicht ein wärmender Schluck Brennivín. Kannte er den Braunen womöglich und wollte auf

diese Weise eine offene Rechnung begleichen? Oder hatte er in das Antlitz des Bösen geblickt, als der eisverkrustete Mann vor der Tür stand, und schickte ihn fort, um seine Kinder zu schützen? War der alte Bauer Jón am Ende selbst ein schlechter Mensch? Nein, ganz sicher nicht.

Fritzi wischt sich eine Träne von der Wange. Wer soll es begreifen, wenn nicht sie, wie ein jeder so tief sinken kann, unfassbare Schuld auf sich zu laden? Nicht zuletzt deshalb hat sie ihn ja genommen, ihren Jón. Den keine Isländerin heiraten wollte, so schlecht stand es seit jener Sturmnacht vor zweihundertfünfundzwanzig Jahren um den Ruf der Familie in der Gemeinde. Nicht nur die Geister sind nachtragend auf dieser Insel.

Sie lässt den Wagen vor dem Haus ihrer Großeltern stehen. Es ist warm, sie braucht den Parka nicht, ein metallgrauer Fliegerparka mit Webpelzkapuze, zu Hause muss sie dringend das Winterfutter herausnehmen. Sie trägt ihn über dem Arm und lässt sich nass regnen. Das Wasser schlägt Blasen auf dem Pflaster. Es ist ein Gefühl wie unter der kalten Dusche im Freibad, so sehr gießt es, ein Wolkenbruch, der seit den Mittagsstunden nicht nachgelassen hat. Harte Tropfen prasseln auf Liv nieder, dröhnen im Kopf und durchdringen ihre Kleider, die Jeans, den Kapuzenpulli, die Unterwäsche, alles saugt sich voll, wird schwer und klebt an ihr. Der Regen riecht nach Blütenstaub.

Liv geht schnell. Niemand sonst ist unterwegs in St. Gertrud, einem bevorzugten Gründerzeitquartier am Rand der Altstadt. Überall Altbauten in, Klassizismus und Jugendstil, nichts wirklich Protziges, doch Tönges hofft erwähnt nicht, dass ihm das Reihenhaus in der Ratzeburger Allee, das Henny und er zuvor bewohnt haben, besser gefiel.Jetzt die Scheidung – aus seiner Sicht vermutlich eine unnütze Geldausgabe.

Sie versucht, sich aus seiner Abwesenheit einen Reim zu machen. Dass er sich für ein paar Tage zurückzieht, ist früher schon vorgekommen. Meistens war er dann irgendwo zum Angeln, soweit sie weiß.Als sie noch zusammen gearbeitet haben, hat er sich vor solchen Kurztrips meistens abgemeldet: »Bin mal ein paar Tage nicht zu erreichen. Du kommst hier ja allein klar.« Das ist lange her. Jetzt wird er in der Firma nicht mehr gebraucht, auch wenn sie sich halbherzig bemüht hat, ihm das Gegenteil zu vermitteln. Warum also Bescheid sagen? Wenn sie nur etwas für ihn tun könnte. Liv wählt seine Handynummer. Das Gerät ist abgeschaltet.

Allmählich wird es dunkel, hinter den geputzten Fenstern gehen die Lichter an. Familien sitzen zusammen, manche schon vor dem Fernseher, andere noch beimAbendessen. Elegante Möbel, heiles Geschirr. Jedem seine Fassade. Im Grunde spricht vieles dafür, man macht es sich nett, schminkt sich und sein Haus und fällt niemandem zur Last. Wer will schon seine Nachbarn dauernd nackt sehen mit all ihren Narben? Liv rupft einen Zweig von einer tief rosa blühenden Zierkirsche. Sie hat sonst nichts gegen das Viertel mit seinem gediegenen Wohlstand, aber an diesem Abend hätte sie Lust, Straßenlaternen und Parkbänke zu demolieren, wie früher mit ihrer Clique. Sie war gern das Mädchen mit den falschen Freunden.

Zu Hause ist Aaron auf Streit aus. Nach der Devise: Angriff ist die beste Verteidigung, kommt er Liv schlaksig im Flur entgegen und baut sich auf seine undynamische Art vor ihr auf. »Die ganze Woche warst du weg, und es war überhaupt nichts zum Essen im Kühlschrank. Ich musste jeden Tag was bestellen, und jetzt habe ich kein Taschengeld mehr. Ganz toll.«

»Wie schön, dass du dir so gut zu helfen weißt.«

Sie schiebt ihren Sohn zur Seite und betritt das Wohnzimmer, an dessen Zustand sich nichts geändert hat, außer dass die Luft deutlich besser ist und der Fernseher läuft. Liv steht still und tropft, auf dem Parkett zu ihren Füßen bildet sich sofort eine Pfütze.

»Du bist ja total durchnässt«, stelltAaron fest.

»Was du nicht sagst.«

»Und wieso?«

»Weil es in Strömen regnet.«

Sichtlich irritiert deutet er auf den Parka. »Warum hast du denn die Jacke nicht angezogen?« Seine Stimme verrät Beunruhigung.Teenager wollen nicht, dass Erwachsene sich merkwürdig verhalten, auch wenn sie ihnen selbst ständig Rätsel aufgeben.

»Aaron, kümmere dich um deinen eigenen Scheiß«, sagt Liv und zieht sich ins Bad zurück, wo sie sich der nassen Sachen entledigt und sich vor den Spiegel stellt. Keine Veränderung. Sie sieht nicht aus wie eine Frau, die imstande wäre, einen Mord zu begehen.

Er hämmert gegen die Tür. »Und was, bitte, ist mein eigener Scheiß?«

»Das Wohnzimmer zum Beispiel. Das kann so ja nicht bleiben. Räum da auf.« Liv stellt die Dusche an. Ihr ist kalt, auf Dauer war es doch nicht so warm draußen.

»Was, wenn nicht?«

Sie öffnet die Tür einen Spalt und blickt dem Jungen in die Augen. »Hör zu, ich habe keine Nerven für diese Spielchen. Entweder bringst du Frau Köhler dazu, deinen Müll zu beseitigen, und bezahlst sie dafür aus eigener Tasche, was schwierig werden dürfte, da du pleite bist und unsere Putzfrau zudem ihre Prinzipien hat, oder du machst dich an die Arbeit. Ich möchte jetzt auf der Stelle duschen und ins Bett, du hast den ganzen Abend Zeit. Morgen früh will ich definitiv keine Essensreste mehr sehen.«

Sie will die Tür schließen,aber Aaron stellt seinen Fuß dazwischen.»Du bist richtig sauer, oder?«

Liv nickt. »Ja, aber nicht auf dich.«

»Okay.« Er atmet auf. »Dann hast du dich nicht meinetwegen, also wegen der Unordnung, meine ich, so nass regnen lassen?«

»Nein, keine Angst«, sagt Liv und bringt so etwas wie ein Lächeln zustande.

Frühstück auf dem Balkon mit Blick über die Dächer der Altstadt. Es ist Sonnabend, Max ist da, sehr gewissenhaft rasiert und voller Tatendrang. Er hat für sie eingekauft, frische Brötchen, Aufschnitt und Marmelade, er hat Eier gekocht, den Tisch gedeckt und sie ausschlafen lassen. Alle Spuren vom Vortag sind gründlich beseitigt, kein Durcheinander mehr im Wohnzimmer, keine Wolken am Himmel. Während sie ihren ersten Kaffee trinkt, gelingt es Liv,sich der Illusion hinzugeben, ihr Ausraster im Haus der Großeltern sei ein hässlicher Traum gewesen. Max betrachtet sie mit selbstgefälliger Konzentration, als wäre sie Teil eines Stilllebens, das er vor dem Hintergrund der Doppeltürme der Marienkirche inszeniert hat, um es zu malen. Erst jetzt bemerkt Liv den Zweig, der in einem hohen Wasserglas steckt: rosa Zierkirsche aus St. Gertrud. »Oh, Blumen«, sagt sie schwach.

»Hab ich im Treppenhaus gefunden, stell dir vor. Wäre doch schade, sie verkommen zu lassen.«

»Hübsch.« Liv trinkt mit geschlossenen Augen, Sonne im Gesicht. Die Luft ist warm und blütenschwer. »Du bist früh dran. Hat Aaron dich reingelassen?«

»Ja.«

»Und wo ist er jetzt?«

»Er wollte in die Stadt, Freunde treffen. Diese Maria war bei ihm.«

Sie schlägt die Augen auf. Hat er also seine Freundin dazu gebracht, ihm beim Aufräumen zu helfen. Nicht schlecht für den Anfang einer Karriere als Herzensbrecher. »Die Kleine hat doch nicht etwa hier übernachtet, oder?«

»Woher soll ich das wissen? Ich war ja brav in meinem eigenen Bett. Jedenfalls haben die beiden riesige Mülltüten aus der Wohnung geschleppt. Du, vielleicht veranstalten die Jugendlichen hier Partys, wenn du weg bist. Glaubst du wirklich, dein Sohn ist alt genug, um tagelang allein zu bleiben?«

Schulterzucken. Seine als Plauderei getarnte Kritik alarmiert Liv. Wie viel Janko steckt in Max? Das hat sie sich in letzter Zeithäufiger fragen müssen. Seit sie ihn mit zu ihrer Familiegenommen hat, spielt er sich auf. Das hauchdünne Fundament ihrer Zweisamkeit hat Risse bekommen.

Max bemerkt nichts davon und verpasst den Zeitpunkt, die Unterhaltung in eine andere Richtung zu lenken. »Wie läuft es eigentlich mit dir und Aaron?«, hakt er nach.

Die Frage hat sich Liv auch schon gestellt, besonders oft in den ersten Tagen, als sie noch zusammenfuhr, wenn sie morgens vor dem Kühlschrank ihrem Sohn begegnete, der seinerseits nicht minder erschrocken wirkte. Nachts vor dem Einschlafen machte sie allein der Gedanke, dass er in der Wohnung war, nervös, ließ sie Minute für Minute auf die große Generalabrechnung wegen vorenthaltener Mutterliebe warten. Sie rechnete mit Geschrei, womöglich sogar Tränen, mit Debatten bis zum Morgengrauen, die sie nur hätte verlieren können. Nichts dergleichen geschah.Also befand sie, es läuft gut. Ein Trugschluss? Wozu sollte sie sich etwas vormachen? Sie hat keine Ahnung, wie er über sie denkt, sie jedenfalls findet ihn prima,jetzt, da sie ihn kennt.

»Was soll ich sagen?«, antwortet sie. »Ich glaube, der Junge will in erster Linie seine Ruhe haben. Mehr Freiraum, weniger Kontrolle. Deswegen ist er bei mir eingezogen. Er lebt sein eigenes Leben, abgesehen davon, dass er sich sehr für die Firma begeistert.«

»Ja, das ist doch großartig«, ruft Max aus. »Darauf kannst du aufbauen.«

Liv kann mit seinem Temperamentsausbruch wenig anfangen. »Was aufbauen? Ich will nichts aufbauen.«

»Wieso nicht? Jetzt hast du vielleicht die letzte Chance, seine Erziehung positiv zu beeinflussen.«

»Wenn zwischen Aaron und mir alles so bleibt, wie es im Augenblick ist, bin ich zufrieden. Ich bin doch gar nicht in der Position,Aaron zu erziehen, der bekommt sowieso genug Druck von zu Hause. Ständig ruft sein Vater an, um Schulnoten abzufragen, nach jedem Pipifax-Vokabeltest. Ich halte mich da raus.«

»Wenn du meinst.«

»Ja, meine ich. Themenwechsel.«

Max reibt sich mit Daumen und Zeigefinger über das glatt rasierte Kinn. Der Versuch, seiner Stimme einen belustigten Unterton zu verleihen, missglückt. »O Gott, Liv. Aufbauen ist echt nicht dein Ding.«

Unverkennbar ein Janko-Satz, und was für einer. Schade, sehr schade. Und obendrein falsch. Sie haben ja irgendeine Art von Anfang gemacht,Aaron und sie, aber sie bleiben vorsichtig, trampeln nicht gleich mit bedeutungsschwangeren Worten darauf herum.

»Du kennst mich schlecht, Max«, sagt sie. »Lass uns von etwas anderem reden.«

» Okay.«

Doch ein anderes Thema ergibt sich nicht.